SITZUNGSBERICHTE
DER
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CLASSE DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.


HUNDERTDREIUNDVIERZIGSTER BAND.


WIEN, 1901.

IN COMMISSION BEI CARL GEROLD'S SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN .



VI.

Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band
der neuen Tertullian-Ausgabe.

von
Dr. Emil Kroymann.


       Abgesehen von der Sonderüberlieferung des Apologeticus 
lassen sich in der Ueberlieferung des Tertullian, zeitlich ange- 
sehen, drei verschiedene Schichten unterscheiden.

        Die älteste wird handschriftlich vertreten durch den Par.  
lat.1622 saec. IX, gewöhnlich Agobardinus genannt, und durch  
die Ausgaben des Johannes Gangneius, Sigismund Gelenius,  
Jacobus Pamelius, welche entweder (Gangneius) auf Hand- 
schriften verwandter Art basiert sind, oder (Gelenius, Pamelius)  
Lesarten aus solchen am Rande notiert haben. Diejenigen  
Schriften Tertullians, welche ausschliesslich durch diese Ueber- 
lieferung uns erhalten sind, sind vereinigt im ersten Bande der  
neuen Wiener Ausgabe.

        Die zweite Schicht gehört dem 11. Jahrhundert an. Hand- 
schriftlich ist sie vertreten durch den Montepessulanus Nr. 307  
und den Paterniacensis Nr. 439 (jetzt in Schlettstadt), die aber  
beide nur einen Teil dieser Ueberlieferung enthalten. Ergän- 
zend treten hinzu die erste Ausgabe des Beatus Rhenanus  
(1521), für welche der Herausgeber ausser dem Paterniacensis  
den jetzt verlorenen Hirsaugiensis benutzte, und seine dritte  
Ausgabe, für welche er noch eine Collation des heute ebenfalls  
verlorenen Gorziensis heranzog.  Diejenigen Schriften, welche  
im Montepessulanus und Paterniacensis enthalten sind, werden  
im III. Bande erscheinen.

 


2

VI. Abhandlung: Kroymann.

 


        Die jüngste Ueberlieferung endlich ist die des 15. Jahr- 
hunderts, vertreten durch die zahlreichen Handschriften italie- 
nischer Bibliotheken, die von mir  zurückgeführt sind auf zwei  
Handschriften der Bibl. naz. zu Florenz,1 nämlich die Codd. S. 
Marco VI, 9 und VI, 10. Mit letzterem eng verwandt sind der  
Vindobonensis 4194 und der Leydensis 2.2 (Heranzuziehen  
sind ausserdem wieder die erste und dritte Ausgabe des Rhe- 
nanus, da sowohl der Hirsaugiensis  wie der Gorziensis ebenso  
vollständig waren wie die genannten Handschriften.) Die- 
jenigen Schriften, die ausschliesslich in diesen Handschriften  
überliefert sind, sollen im IV. Bande erscheinen. Für den  
II. Band bleiben also diejenigen übrig, welche zugleich durch  
den Agobardinus und durch diese jüngste Ueberlieferung auf  
uns gekommen sind.

        Nachdem das handschriftliche Material nunmehr so ziem- 
lich vollständig beisammen ist,3 wird es, um für die Textcon- 
stitution klare Principien zu gewinnen, darauf ankommen: 

        1. das Verhältnis der jüngsten Ueberlieferung zu der  
mittleren, welche aufs engste zusammengehören, deutlicher als  
es bisher geschehen ist, zu erkennen und den Wert der ein- 
zelnen Handschriften, beziehungsweise Ausgaben für die Text- 
constitution festzustellen;

        2. die zusammengehörige mittlere und jüngste Ueber- 
lieferung auf ihr Wesen und ihren Wert an der ältesten, also
an der des Agobardinus, zu prüfen. .

                                           I.


        Als Rhenanus im Jahre 1521 zum erstenmale den Ter- 
tullian in Basel edierte, besass er nach seinem eigenen Zeugnis
(praef. p. 2 und 3) zwei Handschriften: den Cod. Paterniacensis4 
_____________

1. Sitzungsber. der Wiener Akad. CXXXVIII, 3.

2. Alle vier enthalten ausser den im Montep. und Patern. enthaltenen   
Schriften noch eine ganze Reihe anderer, die zum Teil auch im Agob.   
stehen.

3. Es fehlt noch die Collation des Paterniacensis. Die Handschrift befindet   
sich augenblicklich in meinen Händen.

4. Ans dem Kloster Payerne (Peterlingen) am. Neuenburger See. Heute   
befindet er sich in der Stadtbibliothek von Schlettstadt, wohin er durch   
den Decanus Jacob Zimmermann gekommen ist.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

3


und den Cod. Hirsaugiensis, aus zwei Bänden bestehend.1  Der  
heute noch vorhandene Paterniacensis enthält folgende Schriften:  
de patientia dei, de vera carne domini (= de carne Christi),   
de resurrectione carnis, adversus Praxeam, adversus Valenti- 
nianos, adversus Judaeos, adversus omnes haereses, de prae- 
scriptione haereticorum, adversus Hermogenem. Für diese  
Schriften gründete Rhenanus seine Ausgabe durchaus auf den  
Paterniacensis. :Die Hirsauer Manuscripte, welche diese Schriften  
ebenfalls und ausserdem noch 13 andere enthielten, zog er hier  
nur zur Controle und Ergänzung heran, indem er, wie die  
Handschrift aufweist, Varianten und Ergänzungen des Hirsau- 
giensis am Rande notierte. Die Handschrift ist dann in die  
Basler Presse gegangen und dort abgedruckt, so dass die Rand- 
bemerkungen in der Ausgabe denen der Handschrift genau  
entsprechen. Für die übrigen 13 Schriften: de corona militis,   
ad martyras, de paenitentia, de virginibus velandis, de habitu   
muliebri, de cultu feminarum, ad uxorem libri duo, de persecu- 
tione, ad Scapulam de exhortatione castitatis, de monogamia, de   
pallio und adversus Marcionem war der Hirsaugiensis die einzige  
Quelle, so dass die hier am Rande stehenden Lesarten durchaus  
nur den Wert der Conjectur haben. Im übrigen aber wird dieser  
Teil der Ausgabe als Ersatz des Hirsaugiensis zu gelten haben.

        Als Archetypus der beiweitem meisten italienischen Hand- 
schriften ergab sich mir der Cod. S. Marco VI, 10, der in zwei  
von verschiedenen Schreibern geschriebene Teile zerfällt und  
die Schriften Tertullians in folgender Reihenfolge enthält: de   
carne Christi, de carnis resurrectione, de corona militis, ad   
martyras, de paenitentia, de virginibus velandis, de habitu   
muliebri, de cudtu feminarum, ad uxorem libri duo, de perse- 
cutione, ad Scapulam, de exhortatione castitatis, de monogamia,   
de pallio - de patientia dei, adversus Praxeam, adversus   
Valentinianos, adversus Marcionem, adversus Judaeos, adversus   
omnes haereses, de praescriptionibus haereticorum, adversus   
Hermogenem -- also in derselben Reihenfolge, wie sie in der  
Hirsauer Handschrift standen. Geschrieben ist diese Hand-

_____________

1. Diese hatte er sich durch den in Wildbad badenden Thomas Rappius 
besorgen lassen.

2. Die Schriften de carne Christi und de carnis resurrectione fallen weg, 
da Rhenanus diese ans dem Paterniacensis edierte.


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VI. Abhandlung: Kroymann.

 

schrift laut Unterschrift im Jahre 1426 von zwei Franziskanern: 
Thomas von Lymphen und Johannes von Lautenbach, und
zwar in Pforzheim. Die Beobachtung, dass der Hirsaugiensis
dieselbe Anordnung der Schriften aufweist wie diese aus Pforz-
heim stammende Handschrift, welche ich mit F bezeichne, zu-
sammengehalten mit dem Umstande, dass Pforzheim in nächster
Nähe des Hirsauer Klosters liegt, liessen mich vermuten, F sei
vielleicht eine Abschrift der beiden Hirsauer Manuscripte. Mit
F sind aber durch die engste Verwandtschaft verbunden die
oben genannten Vindobonensis 4194 (V) und Leydensis 2 (L),
welche, wie ich früher nachgewiesen habe,1 auf denselben
Archetypus zurückgehen wie F, und zwar F direct, V und
L durch ein Mittelglied. Dieser Archetypus war laut Unter-
schrift in F einmal in Pforzheim, und es fragte sich also, ob
dies der Hirsaugiensis des Rhenanus gewesen sei. Zu ver-
gleichen hatte ich demnach meine Collationen von F V L mit
der ersten Ausgabe des Rhenanus, welche, wie oben gesagt,
zu einem Teile der Abdruck, wenn auch nicht der genaue
Abdruck des Hirsaugiensis ist (H). Ich machte die Stich-
probe am ersten Buch und den ersten 15 Capiteln des zweiten
Buches adversus Marcionem. Hierfür liegen über ausser H F V L
noch zwei andere Handschriften vor, der oben erwähnte Monte-
pessulanus (M) und die zweite Florentiner Handschrift, der
cod. Magliabechianus S. Marco VI, 9 (N), die ich natürlich mit
in die Untersuchung hineinzog. Sie ergab, folgendes Resultat:

Gemeinsame Lücken.

  HPVL | MN
582, 102  natura | 592, 30  sit
592, 2  Judaorum - deum | 607, 36 Quis - concupiscet
592, 27 aliquid | 611, 14 aut
600, 8 evangelii | 614, 8 hoc
601, 12 ipso | 618, legi
604, 15 debere | 622, 21 debuerit


_____________

1 Vgl. meine oben genannte Abhandlung p. 26-28.

2 Ich citiere nach Oehler. ed. minor.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

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606, 11 deo | 625, 23 exinde - terra
616, 3 et |  
617, 20 o |  
620, 25 eius |  
623, 33 de |  
629, 2 si |  


Gleiche Wortstellung.

  HFVL | MN
598, 5 probes eum esse cum probes esse
601, 25 apostoli sententia | sententia apostoli
601, 36 a nobis vincula eorum | vincula a nobis eorum
603, 11 et hic non minus | non minus et hic
604, 13 divina bonitas in terris | divina in terris bonitas
604, 19 ratione desertum | desertum ratione
608, 32 non ut | ut non
609, 4 fieri noluit | noluit fieri
621, 21 scilicet dei | dei scilicet
623, 2 etiam ne | ne etiam
624, 33 et deliquit ex illo | et ex illo deliquit

 

Gemeinsame Lesarten.

  HPVL | MN
584, 3 Ponticos | Ponticus
584, 6 praenuntiationis | pronuntiationis
584, 11 obtunsis | obtusis
584, 28 ostendimus | ostendemus
587, 3 plura potest duo | plura post duo
590, 21 indubitato | indubitate
591, 1 ad hanc causam | adhuc causam
593, 20 nulla | nullam
593, 31 res ipsa | rem ipsam
594, 14 fecit et si | fecisset et si
594, 31 quos | quas
595, 12 docens | dicens
595, 14 araneae | aranei
595, 23 suos | suo
595, 29 caelo | caelum
596, 1 substantia | substantiam



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VI. Abhandlung: Kroymann.

 
596, 7 a XII | a XV
596, 31 in substantia | substantiam
597, 1 et siccis | et sucidis
598, 5 per quem | per quae
598, 11 deducta | deductus
599, 1 deinde negas | dehinc nega
600, 15 inconcussam | inconclusam
602, 24 haeretice | haeretici
603, 6 obvenientia | obventicia
603, 18 si non potest | se non potest
604, 1 sicut | si ut
604, 24 cum ergo | cur ergo
606, 4 qui salvos | quos salvos
606, 24 debui | debuit
606, 36 bonitate | bonitatis
607, 10 perfecta est Alia | perfecte. Alia
609, 21 ut | et
609, 37 diligitur | diligetur
610, 12 circum furenteis  | circi furentis


        Die Zugehörigkeit von F V L zum Hirsaugiensis und von
N zum Montepessulanus ist damit erwiesen. Dennoch kann F
keine directe Abschrift des Hirsaugiensis sein. Denn ausser
den oben angeführten Lücken weisen F und V L noch 38 ge-
meinsame Lücken auf, die der Hirsaugiensis nicht hatte. Dies
zwingt zu der Annahme, dass der Hirsaugiensis zunächst in
dem ehemaligen Franziskanerkloster1 zu Pforzheim abge-
schrieben und dass dann zur Zeit des Basler Concils von
dieser Abschrift wieder zwei Abschriften genommen wurden,
deren eine unsere Florentiner Handschrift ist, während die
andere, die ebenfalls nach Italien kam, selbst verloren ging,
aber noch in V L (beide italienischer Provenienz) weiterlebt.2

_____________

1. Herr Prof. Stelzner Pforzheim teilt mir gütigst mit, dass die Franzis-
kaner sieh bereits um 1270 in Pforzheim ansiedelten. Nach dem Basler
Concil wurde das Kloster durch Nicolaus Coroli von Heidelberg refor-
miert. Den Mönchen wurde ein Capital von 400 fl. zur Anschaffung von
Büchern gewährt. Sie scheinen dies Vermögen also durch Abschreiben
von Handschriften ihrer Bibliothek vermehrt zu haben.

2. Wenn p. 605, 30 Rhenanus das Wort ipsius nicht hat, welches in F V L
erscheint, so ist das offenbar Schuld des Setzers.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

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Also ist F ein Enkel, V L Urenkel des Hirsaugiensis, und dem-
gemäss sehen wir denn auch die Corruption des Textes in V L
noch ein gut Stück weiter fortgeschritten wie in F. Da wir
nun den Hirsaugiensis, freilich nicht ohne Aenderungen, in der
Ausgabe des Rhenanus erhalten haben, so scheiden V L fortan
aus dem kritischen Apparat aus,1 während wir F als Controle
des Rhenanus überall da heranziehen werden, wo wir darüber
im Zweifel sind, ob wir es mit Ueberlieferung oder mit Con-
jectur zu thun haben.

        Die dritte Ausgabe des Rhenanus vom Jahre 1539 be-
zeichnet einen nicht unerheblichen Fortschritt. Es war ihm,
wie er im Vorwort mitteilt, nach langem Bemühen gelungen,
eine Collation der Handschrift von Gorze zu erhalten, 'dili-
gentia ac dexteritate Huberti Curtinei, viri cum pietate tum
eruditione excellentis, adiuvante Domenico Florentino sodali
peractam.'

        Dieser Gorziensis enthielt sämmtliche Schriften, die im
Cod. N enthalten sind,2 und seine Spuren sind in den Annota-
tiones, die Rhenanus jeder Schrift vorausschickte, erhalten. Auf
Grund der vielfachen Uebereinstimmungen zwischen diesem
Gorziensis und N glaubte ich früher3 wahrscheinlich machen
zu können, dass N eine Abschrift dieses heute verlorenen Gor-
ziensis sei. Eine genügend gegründete Ansicht über das Ver-
wandtschaftsverhältnis dieser beiden Handschriften zu gewinnen,
ist aber dadurch sehr erschwert, dass wir jene Collation des
Gorziensis, die für Rhenanus gemacht wurde, nicht mehr be-
sitzen. Ausserdem lässt sich nicht beurteilen, bis zu welchem
Grade sie sorgfältig war und wieweit es dem Rhenanus be-
liebte, ihr zu folgen. Es hat sich mir bei näherer Prüfung er-
geben, dass seine Bemerkungen darüber in den Annotationes
ganz unvollständig sind. Denn es erscheinen in der dritten

_____________

1. Also ist die Zeit, die ich im Vertrauen auf die früheren Herausgeber
auf die Collation dieser beiden Handschriften verwendete, leider ganz
vergeudet gewesen.

2. Wenn vor dem Apologeticus die Annotationes ganz fehlen, so bat das
darin seinen Grund, dass Rhenanus diese Schrift aus der Aldina von
1515 auch hier wieder abdruckte. Er wird also für diese Schrift auf die
Collation verzichtet haben.

3. Vgl. meine Abhandlung p. 31.


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VI. Abhandlung: Kroymann.

 



Ausgabe des Rhenanus eine ganze Reihe von ihm nicht notierter
neuer Lesarten, die er sicher nicht der Conjectur, sondern
seiner Collation des Gorziensis verdankt. Es war also not-
wendig, die dritte Ausgabe mit der ersten und dann die Er-
gebnisse dieser Collation mit der Ueberlieferung der Hand-
schriften N und M zu vergleichen. Dabei ergab sich zunächst,
dass, wie ich schon geschlossen hatte, der Gorziensis zweifellos
aufs engste verwandt ist mit der durch N M vertretenen Ueber-
lieferung. Als Beweis diene die folgende Zusammenstellung von
Varianten aus den ersten 25 Capiteln des ersten Buches adv.
Marcionem.

p. 582, 10 Pontus qui igitur Euxinus negatur, nomine 
    illuditur H F
Pontus qui igitur Euxinus natura negatur 
    nomine illuditur G M N.
p. 584, 26 de bono praestruendo RF
de bono praeferendo G N
de bono praestru ferendo M.
p. 587, 12 quae H F
qua G N M.
p. 592, 2 Judaorum enim deum dicunt animae deum
     GNM
om. H F.
p. 592, 6 a certo certus H F
a certo incertus G N M.
p. 592, 27 aliquid G N M
om. H F.
p. 593, 21 nulla H F
nullam G N M.
p. 598, 13 deducta H F
deductus G N M.1
p. 600, 8 evangelii G N M
om. H F.
p. 600, 11 indicantur H (indueantur F)
indurantur G N M.

_____________

1. Im Texte steht zwar deducta, doch bemerkt Rhenanus in den Annota-
tiones, dass der Gorziensis deductus habe.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

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p. 600, 25 tibi H F
tibi scilicet M N
scilicet tibi G.
p. 600, 35 susceptam H F
suspectam G N M.
p. 601, 12 ipso G N M
om. HF.
p. 604, 1 Sicut H F
Si ut G N M.
p. 606, 29 debui H F
debuit G N M.
p. 606, 36 bonitate H F
bonitatis G N M.
p. 607, 12 perfecte deum ostendere HF
perfecte bonum ostendere G N M.
p. 607, ult. Quis volet, quod non concupiscet H F
om. G N M.1

        Beweist mir diese Reihe übereinstimmender Lücken und
Lesarten die Zugehörigkeit von G zu NM, so scheinen doch
wieder andere Umstände diesem Ergebnis zu widersprechen.
Zunächst erscheint die vielfach von H F abweichende Wort-
stellung von N M in der dritten Ausgabe des Rhenanus in
keinem einzigen Falle, wie sich aus folgender Zusammen-
stellung ergiebt.

p. 598, 5 eum probes N M
probes eum F Rhen. I und III.
p. 601, 36 a nobis vincula eorum N M
vincula a nobis eorum F Rhen. I und III.
p. 603, 11 non minus et hic N M
et hic non minus F Rhen. I und III.
p. 604, 1 divina in terris bonitas N M
divina bonitas in terris F Rhen. I und III.
p. 600, 25 tibi scilicet M N
scilicet tibi Rhen. III.2

_____________

1. Auf die Autorität des Gorziensis hin lässt Rhenanus in der dritten Aus-
gabe diese Worte weg.

2. Rhen. 1 hat scilicet überhaupt nicht. In den Annotationes steht als Les-
art des Gorziensis ausdrücklich scilicet tibi.


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VI. Abhandlung: Kroymann.

 

 

        An zwei Stellen finden wir sogar Lücken, welche der
Hirsaugiensis hatte, nicht ausgefüllt, obwohl NM das fehlende
Wort aufweisen:

        p. 604, 14 Aliam illi regulam praetendo, sicut naturalia
ita rationalia esse [debere NM] in deo omnia.

        p. 606, 11 Quem enim iudicem tenes, dispensatorem si
forte bonitatis ostendis intellegendum, non profusorem, quod tuo
[deo N M] vindicas.

        Endlich vermissen wir bei Rhen. III eine Reihe von
Varianten, und zwar guten, welche wir gemäss der engen
Verwandtschaft von G mit N M bei ihm zu finden erwarten
sollten:

p. 594, 9 praesignavit N M
praesignaverit Rhen. I und III.
p. 595, 12 dicens N M
docens Rhen. I und III.
p. 595, 7 aranei N M
araneae Rhen. I und III.
p. 599, 1 de hinc N M
deinde Rhen. I und III.
p. 600, 28 currisset N M
cucurrisset Rhen. I und III.
p. 601, 35 praececinerat N M
praecinuerat Rhen. I und III.
p. 603, 6 obventicia N M
obvenientia Rhen. I und III.


        Aus diesem Thatbestande schliessen zu wollen, dass der
Gorziensis in allen diesen Dingen eben nicht mit N M überein-
gestimmt hätte, wäre indes falsch. Schuld daran ist zweifellos
einerseits die Collation, die nicht nach den Forderungen moder-
ner Kritik eingerichtet war, und andererseits Rhenanus selbst,
der in vielen Fällen der Lesart des Hirsaugiensis den Vorzug
geben mochte.1 Es ist also klar, dass die dritte Ausgabe des
_____________

1. Uebrigens geht die Willkür des Rhenanus in seiner dritten Ausgabe sehr
weit. Er hat der Conjectur hier einen breiten Raum gewährt und seine
vermeintlichen Emendationen ohne Vermerk in den Text gebracht. Da
die folgenden Herausgeber hierdurch verführt sind, vage Vermuthungen
des Rhenanus als Ueberlieferung weiterzugeben, so wird hier der ge-


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

11


Rhenanus uns nur ein sehr unvollkommenes Bild von dem
Gorziensis giebt. Um so wichtiger wird uns für die Textcon-
stitution im IV. Bande der Codex N werden.

        Es fragt sich nun weiter, ob Anhaltspunkte vorhanden
sind, die einen Schluss auf das Verwandtschaftsverhältnis von
G N M gestatten. Ich glaube zunächst, mit guten Gründen
wahrscheinlich machen zu können, dass N in seinem ersten
Teile (p. 1-134 v.) aus M geflossen ist, sei es nun direct oder
durch ein Mittelglied. Der Montepessulanus weist nämlich eine
doppelte Correctur auf, eine von der Hand des Schreibers
selbst und eine zweite von einer andern Hand, die aber nach
Reifferscheids Urteil ebenfalls alt ist. Dass nun in der Floren-
tiner Handschrift die Correctur des Schreibers selbst im Texte
erscheint, wäre natürlich noch kein Beweis für seine Abhängig-
keit von M, da der Schreiber nach seiner Vorlage corrigiert,
_____________

eignete Ort sein, durch einige Proben auf diesen wunden Punkt hinzu-
weisen

p. 583, 3 Sedes (sc. gentium Ponti) incerta, vita cruda, Libido promiscua
et plurimum nuda; etiam cum abscondunt, suspensis de iugo pharetris,
ut indicibus notentur, ne qui intercedat. - So die einstimmige Ueber-
lieferung, die völlig verständlich ist, wenn man die echt tertullianeischen
Ellipsen nur dem Sinne nach ergänzt: etiam cum abscondunt (sc. libi-
dinem), suspensis de iugo pharetris (sc. abscondunt), ut etc. Rhenanus
aber ändert dreist: suspensis de iugo pharetris indicibus, ne temere quis
intercedat.

p. 589, 5 Id ergo summum magnum, quod deo adscribimus ex substan-
tiae lege, non ex nominis lege, contendimus ex pari esse debere in
duobus, qui ea substantia constant, qua deus dicitur, quia qui in quan-
tum dii vocantur, id est summa magna, substantiae scilicet merito in-
natae et aeternae ac per hoc magnae et summae, in tantum non possit
summum magnum minus et deterius alio summo magno haberi. - Hier
tilgt Rhenanus das qui hinter quia und das et vor summae. Dass das
letztere unnötig ist, hat schon Rigault gesehen, der es wieder in den
Text aufnimmt. Aber auch mit der Tilgung des qui hat Rhenanus
schwerlich Recht; mir scheint es nur seinen rechten Platz verloren zu
haben, und ich schreibe: qua qui (= aliquis) deus dicitur, quia etc.
qui = quis s. oben: ne qui intercedat. - Ebenso ist durch Umstellung,
nicht durch Streichung, zu heilen:

p. 592, 30 Adeo inde auctoritas accomodata si falsae divinitati, uncle prae-
cesserat verae. Unam sattem cicerculam deus Marcionis protulisse de-
buerat. - Das si, welches Rhenanus tilgt, ist vor finde zu setzen und
nach verae gier Punkt in ein Komma zu verwandeln.


12

VI. Abhandlung: Kroymann.

   

 

beweisend aber ist, dass auch die Correctur der zweiten Hand,
welche Conjectur, nicht Ueberlieferung giebt, bei N im Texte
erscheint. In dem von mir untersuchten Abschnitt ist dies
dreimal der Fall.

        590, 37 Si ita est, ecquid tibi videtur iusta ratione de-
fendi, ut ad normam et formam et regulam certorum probentur
incerta? - Hiefür bietet M: Si ita e <.. under letter e> (in mg.: sunt, man. al.
antiqua) haec quid tibi videtur etc. Die Corruptel haec quid
für ecquid liess den Corrector das est beanstanden und dafür
sunt einsetzen, so dass er also verstand: si ita sunt haec, quid
tibi videtur etc. Und eben dies liest man im Codex N jetzt
im Texte.

       596, 7 M: At nunc, quale est ut dominus a. XV Tiberii
caesaris revelatus sit, anno substantia vero a.l XV iam Severi im-
peratoris nulla omnino comperta sit. Es kann kein Zweifel
darüber bestehen - obwohl kein Herausgeber darauf gekommen
ist, dass das mit einem Punkt versehene  a  nicht die Präpo-
sition, sondern die Abkürzung für  anno  ist, womit uns das
thörichte ad des Pamelius erspart bleibt. Aber schon der Cor-
rector von M fasste es als Präposition und ergänzte folge-
richtig  anno, welches er überschrieb. In N steht dies Wort
denn auch im Texte. Im Gorziensis dagegen dürfte es nicht
gestanden haben, da es auch in der dritten Ausgabe des Rhe-
nanus nicht erscheint.

        595, 34 Rosam tibi si obtulero, non fastidies creatorem;
hypocrita, muta porrocaracte [XXXX over rocara]  re [circumflex over re] si probes te Marcionitam. Nach
dem ausdrücklichen Zeugnis des Rhenanus bot hier der Gor-
ziensis : hypocritam ut apocarteresi grobes te Marcionitam, etc.,
wäs ohne Zweifel Tertullian geschrieben hat, nur dass mit
Rhenanus der Accusativ hypocritam in den Vocativ zu ändern
ist. Was wir jetzt in M lesen, ist Correctur der zweiten Hand,
und Reifferscheid glaubte darunter noch deutlich die Lesart
des Gorziensis zu erkennen. In N aber lesen wir im Texte: 
hypocrita, muta porro caracterem si etc. Ein weiteres Beispiel
fand ich in der Schrift de carne Christi p. 918, 24. Hier bietet
M : Oro vos, si dei Spiritus [filivs over Spiri] non de vulva carnem participaturus

_____________

1. Hierfür führt Pamelius ad ein, und Oehler ist ihm gefolgt.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

13


descendit in vulvam, cur descendit in vulvam? Das über-
geschriebene filius stammt, nach Reifferscheids Urteil, von einer
dritten Hand saec. XIII oder XIV; in N erscheint es unter
Weglassung von Spiritus im Texte.1 Damit aber wird es so
gut wie sicher, dass N nicht nur auf M zurückgeht, sondern
eine Abschrift von ihm ist, und wenn nun in N noch weitere
17 Schriften erscheinen, so wird der Schluss erlaubt sein, dass
auch der Montepessulanus ebenso wie der Gorziensis aus zwei
Teilen bestand, deren letzter aber verloren ging. Ob der Gor-
ziensis ebenfalls aus diesem ehemals vollständigen Montepessu-
lanus stammt, lässt sich bei unserer lückenhaften Kenntnis der
Handschrift nicht beweisen. Soweit aber diese reicht, giebt es
nach meinen bisherigen Beobachtungen keine Instanz dagegen,
und so halte ich denn fürs erste auch den Gorziensis für eine
Abschrift von M die aber gemacht sein muss, bevor der zweite
Corrector von M seine Aenderungen eintrug.

        Dagegen kann der Paterniacensis nicht aus M stammen,
obwohl im übrigen diese beiden Handschriften fast aufs Wort
übereinstimmen. Denn in den 11 Capiteln de Carne Christi,
woran ich die Stichprobe machte, weist P gegenüber M an
fünf Stellen ein Mehr auf.2 Im Uebrigen aber ist die Ueber-
einstimmung so vollständig, dass P als ein Bruder von M an-
zusehen ist, aus demselben Archetypus geflossen, und da in P
vier Schriften stehen, die M nicht aufweist, so ist das eine
neue Bestätigung dafür, dass jener Archetypus unsere Ueber-
lieferung vollständig enthielt. Das Verhältnis des Hirsaugiensis
zu M P oder besser zu ihrem Archetypus zu bestimmen, stösst
deshalb auf Schwierigkeiten, weil Rhenanus für die Schriften,
welche H mit M P gemeinsam hatte, durchaus dem Pater-
niacensis folgt, während er über H nur am Rande Notizen
macht. Bis jetzt habe ich in M P keine gemeinsame Lücke
gefunden, welche durch H ergänzt würde, wodurch ja freilich
der Ursprung von H aus dem Archetypus von M P ausge-
schlossen würde. Deshalb möchte ich vorerst es als wahr-
scheinlich hinstellen, dass auch der Hirsaugiensis ein Abkömm-

_____________

1. Da dies auch bei Pamelius gedruckt steht, so dürfte er N benützt haben.
Doch wird das noch näher zu untersuchen sein.

2.  p. 919, 15 eam.    p. 913, 5 filio.    p. 920, 2 quasi.   p. 920, 5 a. i. ut.
p. 921, 2 et.    M gegenüber P an einer ganzen Reihe von Stellen.


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VI. Abhandlung: Kroymann.

   

ling des Archetypus von M P ist. Wenn H den Handschriften
M und P gegenüber eine sehr beträchtliche Anzahl von Ab-
weichungen aufweist, so ist das erstens aus dem Umstande er-
klärlich, dass dieser Codex, wie man aus des Rhenanus Rand-
bemerkungen ersieht (vgl. z. B. p. 2), durchcorrigiert war,
andererseits daraus, dass man zwischen jenem Archetypus und
H  noch ein Mittelglied zu statuieren haben wird. Denn dass
der Hirsaugiensis jedenfalls jünger war als der Paterniacensis,
ersieht man schon daraus, dass Rhenanus, wo es möglich war,
den letzteren seiner Ausgabe zu Grunde legt. Ausserdem be-
sagt eine Vorbemerkung zu dem alten Katalog von Hirsau
(Becker, p. 100, 4), dass fast alle Handschriften des Klosters
unter den Aebten Wilhelm, Bruno, Vollmar und Manegold ge-
schrieben seien, d. h. in dem Zeitraume von 1077-1167. Wir
werden also nicht irregehen, wenn wir den Hirsaugiensis dem
12. Jahrhundert zuweisen.1

        Angesichts dieser Ergebnisse musste sich mir von selbst
die Frage aufdrängen, wo wohl diese gemeinsame Quelle un-
serer Handschriften, welcher ein sehr grosser Teil tertullianei-
scher Schriften seine Erhaltung verdankt, zu suchen sei. Nun
sind sowohl Peterlingen (Paterniacum) wie Gorze und Hirsau
cluniacensische Gründungen oder wenigstens von Cluny beein-
flusst, und deshalb lag es nahe, diesen Archetypus in der
reichen ehemaligen Klosterbibliothek von Cluny zu suchen.
Diese Vermutung hat sich denn auch nicht als irrig erwiesen.
In dem bei Delisle2 abgedruckten alten Bibliothekskatalog von
Cluny (1158-1161), auf welchen mich Ernst Sackur hinzu-
weisen die Güte hatte, finden wir unter Nr. 73 und 74 Fol-
gendes notiert:

        Nr. 73. Volumen, in quo continentur libri Tertulliani de-
cem ad diversos et apologeticum eius.

        Nr. 74. Volumen, in quo continentur eiusdem libri XVII.

        Dies sind aber ohne Zweifel keine anderen Schriften als
die, welche uns vereinigt in dem Florentiner Codex N vor-
liegen, und die auch dessen Vorlage M wahrscheinlich einmal
_____________

1. Sollte sich diese meine Annahme im weiteren Verlaufe meiner Arbeiten
nicht halten lassen, so müssen jedenfalls der Archetypus von M P und
der von H  Brüder gewesen sein.

2. Inventaire des manuscrits de la bibliothèque nationale.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

15

vollzählig enthielt. Denn M  und der erste Teil von N  ent-
halten in der That ausser dem Apologeticus 10 Schriften des
Tertullian, wenn man die Schrift adversus Marcionem als fünf
Bücher rechnet, und dass es dieselben Schriften waren, be-
weist der Zusatz ad diversos. Und ebenso enthält auch der
zweite Teil von N, wenn man die Schrift ad uxorem als zwei
Bücher zählt, genau 17 Schriften. - Der Archetypus der ge-
summten Tertullianüberlieferung des 11. und 15. Jahrhunderts
lag also noch im 12. Jahrhundert in zwei Bänden auf der
Klosterbibliothek zu Cluny, und aus M N  wissen wir, wie die
Schriften Tertullians auf diese beiden Bände verteilt waren.1
Dass aber gerade cluniacensische Aebte es gewesen sind, welche
das Gedächtnis eines Mannes, den bis dahin die abendländische
Theologie auch nur zu nennen sich scheute, der Nachwelt er-
halten haben, giebt doch in der That zu denken. Es erhebt
sich natürlich die Frage: Woher hat Cluny diesen Schatz,
von dem uns vor dem 11. Jahrhundert, wie es scheint, nur
einmal eine Notiz Kunde giebt. In einem alten Bibliotheks-
katalog saec.X des Klosters Lorch2 (coenobium Laurisheimense)
wird aufgeführt: Libri Tertulliani presbyteri : de patientia lib. I
de carnis resurrectione lib. I Adv. Marcionem lib. V de carne
Christi lib. I in uno codice. Weiterhin: liber Tertulliani pres-
byteri und item alius liber Tertulliani. Endlich: item libri Ter-
tulliani in alio codice. - Zählt man nämlich zu den Schriften
des erstgenannten Codex, welche ja alle im ersten Teile von
N  und in M  stehen, die beiden folgenden in je einer Hand-
schrift überlieferten hinzu, so ergiebt sich wiederum die Zahl
zehn; der letztgenannte Codex könnte dann in der That die
anderen siebzehn Schriften enthalten haben, die einzeln aufzu-
zählen dem Verfasser des Katalogs zu umständlich war. Aber
abgesehen davon, dass dies eben Vermutungen sind, würde
uns, auch wenn sie richtig wären, jedes Mittel fehlen, zu be-
_____________

1. Die veränderte Ordnung der Schriften im Paterniacensis und Hirsau-
giensis hat wohl nur den praktischen Grund, den Umfang der beiden
corpora, der sehr ungleich war, mehr auszugleichen. Denn auch der
Paterniacensis dürfte einmal einen zweiten Teil gehabt haben.

2. Becker, Cat, ant. 37, 320 und 321, 385 und 386. Mai, Spic. Rom. V,
186. Vgl. die Bemerkungen des Rhenanus hierzu, Oehler, praef. p. XVII.


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VI. Abhandlung: Kroymann.

   

stimmen, ob Lorch von Cluny1 oder Cluny von Lorch oder
auch ob beide anderswoher ihren Schatz bekommen haben.
Das eigentliche Problem, wie es überhaupt möglich war, dass
die Schriften des Häretikers sich bis in jene Zeit gerettet
haben, hat Harnack richtig gestellte2 und als das einzige Mittel,
es zu lösen, mit Recht das Studium der fränkischen Theologen
des 9. Jahrhunderts bezeichnet. Aber es gesellt sich zu diesem
Problem, wie ich im zweiten Teile dieser Untersuchung wahr-
scheinlich machen werde, noch ein anderes, wie es nämlich
möglich war, dass trotz des Verdammungsurteiles der Kirche
sogar eine Ausgabe von Werken Tertullians entstehen konnte;
denn, eine solche stellt meines Erachtens die Ueberlieferung
von Cluny dar.

II.



Dass in der That die Ueberlieferung von Cluny ihrem
Wesen nach etwas anderes ist als die des Agobardinus, lässt
zunächst die verschiedene Anordnung der Schriften in beiden
erkennen. Zur Veranschaulichung stelle ich die Reihenfolge
der Schriften in beiden Ueberlieferungen hier nebeneinander:

Agobardinus | Florentinus N
Ad nationes libri II | De patientia
De praescriptione haereticor. | De carne Christi
Scorpiace | De carnis resurrectione
De testimonio animae | Adversus Praxeam
De corona |  Adversus Valentinianos
De spectaculis | Adversus Marcionem
De idololatria |  (Apologeticus)
De anima | De fuga
De oratione | Ad Scapulam
De cultu feminarum | De corona militis
Ad uxorem | Ad martyras
De exhortatione castitatis | De paenitentia
De carne Christi | De virginibus velandis

_____________

1. Die Handschriften von Cluny brauchen natürlich nicht erst nach der
Gründung des Klosters 910 entstanden zu sein.
2. Tertullian in der Litteratur der alten Kirche, Sitzungsberichte 1895,
p. 560.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

17


De spe fidelium |  De habitu muliebri
De paradiso | De cultu earum
De virginibus velandis |  De exhortatione castitatis
De carne et anima | Ad uxorem
De patentia | De monogamia
De paenitentia | De pallio
De animae submissione | Contra Judaeos
De superstitione saeculi. |  Adversus omnes haereticos
  | De praescr. haereticor.
  | Adversus Hermogenem.

 

        Während im Agobardinus Schriften polemischen, apolo-
getischen, dogmatischen und erbaulichen Inhaltes in buntem
Wirrwarr durcheinandergemengt sind, lässt sich im Florentinus
unmöglich die ordnende Hand des Sammlers verkennen. Oder
sollte es etwa Zufall sein, dass im zweiten Teile zuerst vier
Schriften zusammenstehen, welche alle Ereignisse der Christen-
verfolgung zum Thema haben, dass die vier nächsten sämmt-
lich fragen der Kirchenzucht behandeln und die drei folgen-
den wiederum im Wesentlichen dieselbe Frage, nämlich welche
Forderungen die castitas Christiana stellt, erörtern? Und wenn
nun auch im ersten Teile, abgesehen von der ersten Schrift,
nur Schriften polemischen Inhaltes zusammenstehen, so kann
man, wenn die erste Schrift des ersten Teiles und die fünf
letzten des zweiten Teiles einer planmässigen Anordnung zu
widersprechen scheinen, nicht umhin, anzunehmen, dass durch
irgend einen Zufall die ursprüngliche Ordnung nicht mehr ganz
innegehalten ist. Wie diese Störung entstehen konnte, dafür
giebt es eine sehr einfache Erklärung. Ich denke mir die ur-
sprüngliche Gestalt dieses Corpus Tertullianeum nämlich so:

De fuga
Ad Scapulam
De corona militis
Ad martyras
De paenitentia
De virginibus velandis
De habitu muliebri
De cultu earum
De exhortatione castitatis
Ad uxorem


18

VI. Abhandlung: Kroymann.

   

De monogamia
De pallio
-------
De patientia
De carne Christi
De carnis resurrectione
Adversus Praxeam
Adversus Valentinianos
Adversus Marcionem1
-------
Contra Judaeos
Adversus omnes haereticos
De praescriptione haereticorum
Adversus Hermogenem.


        Denken wir uns nun, dass aus diesem Gesammtcodex der
durch die beiden Striche bezeichnete mittlere Teil, sei es durch
Loslösung herausfiel, sei es absichtlich herausgenommen wurde,
um seinen übergrossen Umfang zu verkleinern, so ist ersicht-
lich, wie nicht Zusammengehöriges zusammen geraten musste.
War aber die obige Anordnung die ursprüngliche, so haben
wir erstens in den Schriften de pallio und de patientia wieder
zwei insofern zusammengehörige Schriften, als in ihnen das
persönliche Moment gleich stark hervortritt, und zweitens treten
die vier polemischen Schriften des zweiten Teiles in Zusammen-
hang mit den fünf des ersten Teiles, so dass das Ganze ohne
Rest aufgeht. Wenn im Paterniacensis die sämmtlichen polemi-
schen Schriften wieder zusammenstehen, so ist das eben als
ein Versuch anzusehen, die ursprüngliche Ordnung wiederher-
zustellen, der aber nur halb gelungen ist, da die Schrift de
patientia nicht zu dem andern Teile geschlagen ist. Ich bin
also der Meinung, dass die jetzt vorliegende Trennung dieser
Ueberlieferung in zwei Corpora ein Spiel des Zufalles oder ein
Act der Willkür ist, und dass es ursprünglich nur ein grosses,
nach sachlichen Gesichtspunkten geordnetes Corpus Tertullia-
neum gab, d. h. aber eine von einem Sachverständigen herge-
stellte Ausgabe tertullianeischer Schriften. Dass dieses Corpus
in Frankreich entstanden ist, muss mindestens als wahrschein-
_____________

1. Die folgende Schrift, der Apologeticus, war der Sammlung ursprünglich
fremd, wie die Vorschrift in M  beweist: Post sex superiores adpositus
est elegantissimus liber apologeticus de ignorantia dei in Christo Jesu.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

19



lich angesehen werden; die Frage aber, zu welcher Zeit und
von welchem Manne dies geschehen ist, muss vorläufig in der
Schwebe bleiben. Mir liegt es zunächst ob, zu untersuchen, ob
sich die Thätigkeit des Herausgebers auf die blosse Sammlung
tertullianeischer Schriften beschränkt hat, oder ob sie zugleich
eine wie auch immer geartete recensio des Textes selbst dar-
stellt. Die Möglichkeit, diese Untersuchung anzustellen, ist da-
durch gegeben, dass uns in dem Agobardinus eine von der
cluniacensischen unabhängige Ueberlieferung aufbehalten ist,
welche nach den bisherigen kritischen Resultaten als eine im
wesentlichen von absichtlichen Aenderungen freie Weitergabe
des Textes angesehen werden darf.

        Nun ist aber die Ueberlieferung von Cluny in den Hand-
schriften des 15. Jahrhunderts in der Verderbnis so erheblich
vorgeschritten, dass die Untersuchung nur von den beiden
Randschriften des 11. Jahrhunderts ausgehen darf. Das einzige
Stück aber, welches diese beiden Handschriften mit dem Ago-
bardinus gemein haben, sind die zehn ersten Capitel der Schrift
de carne Christi.1 Diese haben also das Material für die fol-
gende Untersuchung zu liefern.

        Methodisch war es mir zunächst von Wichtigkeit, festzu-
stellen, ob sich durch irgendwelche unanfechtbaren Indicien der
Beweis erbringen lasse, dass beide Ueberlieferungen am letzten
Ende auf denselben Archetypus zurückgehen, womit ich natür-
lich nicht das Originalmanuscript des Schriftstellers meine.
Denn wenn sich dieser Beweis erbringen liess, so war die
Kritik insofern auf einen sichereren Boden gestellt, als die
Frage einer etwaigen zweifachen Ausgabe seitens des Schrift-
stellers - denn hiermit müsste bei Tertullian gerechnet wer-
den - gegenstandslos würde.

        Als solche Indicien können nur solche gemeinsame Ver-
derbnisse des Textes angesehen werden, die sich einzig und
allein aus einer gemeinsamen, schon verderbten Quelle erklären
lassen, ich meine besonders in den Text gedrungene Glossen
und Interpolationen.2 - Für beide aber kann ich aus den
ersten zehn Capiteln de carne Christi mehrere Beispiele auf-
_____________

1. In Capitel 10 bricht der Agobardinus ab.
2. Dass es deren im Agobardinus giebt, glaube ich in meiner Dissertation:
    Quaestiones Tertullianeae criticae (vgl. p. 117) nachgewiesen zu haben.


20

VI. Abhandlung: Kroymann.

   


weisen, die, wie ich meine, bei Kundigen nicht auf Wider-
spruch stossen werden.

        p. 425, 11   Marcion, ut carnem Christi negaret, negavit
etiam nativitatem, aut ut nativitatem negaret, negavit et car-
nem, scilicet ne invicem sibi testimonium responderent (ita A.
- M P testimonium redderent responderent). Der Sinn ist un-
zweifelhaft: damit nicht nativitas und caro gegenseitig für ein-
ander Zeugnis ablegen. Hiefür ist bei Tertullian der terminus
technicus: respondere,1 wofür Oehlers Index Beispiele genug
aufweist. Ein Accusativ testimonium ist dabei wegen der unten
angeführten eigentlichen Bedeutung des respondere ganz un-
erträglich. Wie er in den Text gekommen ist, lehrt uns die
Ueberlieferung von MP: das testimonium redderent war als
Glosse dem responderent übergeschrieben; in A ist sie zum
Teil, in M P ganz in den Text gedrungen.

        p.426, 11   Plane nativitas (Christi) a Gabriele adnun-
tiatur. Quid illi cum angelo creatoris ? Et in virginis uterum
conceptus inducitur. Quid illi cum Esaia profeta (profeta om.
M P) creatoris? Dem cum angelo creatoris entspricht nur ein:
cum profeta creatoris ; der aufdringliche Zusatz Esaia beleidigt
jedes Stilgefühl. Dass ein Verderbnis vorliegt, bestätigt die
andere Ueberlieferung, welche profeta weglässt, aber Esaia bei
behält. Hier hat also die Glosse sogar das Richtige verdrängt,
während es sich in A in den Text eingeschlichen hat.

        p. 435, 13    Fuit itaque phantasma post resurrectionem,
cum manus et pedes suos discipulis inspiciendos offert, aspicite,
dicens (ita M P. - A inquit dicens), quod ego sum. - Um
die beiden Teile des Satzes enger zu verbinden, hatte jemand
das losere, aber bei Tertullian sehr beliebte inquit durch di-
cens verbessern wollen. In A drang es nur in den Text, in
M P verdrängte es das Richtige.

        439, 12   Sed2 temptandi gratia nuntiaverunt ei (sc. Christo)
matrem et fratrem, quos non habebat. Hoc quidem scriptura
non dicit, alias non tacens, cum quid temptandi gratia factum
est erga eum. 'Ecce,' inquit, 'surrexit legis doctor temptans
eum,' et alibi : 'et accesserunt ad eum pharisaei temptantes
_____________

1. Der Aasdruck ist juristisch; respondere eigentlich: 'hier' rufen vor Ge-
    richt, um sich zu verantworten und zu verteidigen.
2. Einwurf des Gegners.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

21



eum'. Quod nemo prohibebat hic quoque significari [temptandi
gratia factum]. Die eingeklammerten Worte geben ausdrück-
lich das, was mit dem Relativum quod - und zwar durchaus
eindeutig nach dem Vorhergehenden - kurz ausgedrückt ist.
Dass dies nebeneinander nicht erträglich ist, hätten eigentlich
die früheren Herausgeber sehen sollen.

        Ich beschränke mich auf diese vier Stellen (obwohl ich
noch mehr als eine für interpoliert halte), weil sie mir nicht.
anfechtbar erscheinen, und weil sie zum Erweise meiner Be-
hauptung hinreichen. Der Herausgeber des Corpus hat also
wenigstens für diese Schrift seinen Text auf eine Handschrift ge-
gründet, welche auf dasselbe bereits verderbte Exemplar zurück-
geht, aus dem such der Agobardinus geflossen ist, d. h. aber,
die Sammlung ist in einer Zeit zustande gekommen, in welcher
die Ueberlieferung bereits nicht mehr intact war, also jeden-
falls nicht allzu bald nach dem Erscheinen der Schriften.

        Wie hat nun, das ist die weitere Frage, der Sammler des
Corpus mit der Ueberlieferung geschaltet? Dass diese Ueber-
lieferung von der des Agobardinus sehr wesentlich verschieden
ist, darüber hat, nie ein Zweifel geherrscht. Ob aber diese Ab-
weichungen die natürliche Folge einer um zwei Jahrhunderte
längeren Tradition sind, oder ob sie Merkmale aufweisen,
welche eine einschneidende Correctur erkennen lassen, die man
dann doch am natürlichsten dem Sammler des Corpus zu-
schreiben wird, das wird jetzt zu untersuchen sein. Der Ueber-
sichtlichkeit wegen bespreche ich die wesentlichen Abweichungen
in drei Abschnitten: 1. Auslassungen, 2. Zusätze, 3. Varianten.

1. Auslassungen.



        p. 425, 1    Qui fidem resurrectionis ante istos Sadducaeo-
rum propinquos sine controversia moratam ita (ita Rigaltius.
A morata ista. M P moratam) student inquietare, ut etc. Zweifel-
los richtig hat Rigaltius aus ista ita hergestellt, welches um
des folgenden ut willen nicht fehlen kann. Wenn dies Wort
in M P ganz fehlt, so liegt der Verdacht nahe, dass der Sammler
es mit Absicht fallen liess, weil er mit dem corrupten ista
nichts anzufangen wusste.

        p. 427, 3    His opinor consiliis tot originalia instrumenta
Christi delere, Marcion, ausus es, ne caro eius probaretur. Ex 


22

VI. Abhandlung: Kroymann.

   


quo, oro te? Exhibe auctoritatem. - Die letzten Worte lauten
im M P: ex qua, oro te, auctoritate? Das liest sich in der
That ebenso glatt, wie die Fassung des Agobardinus unge-
wöhnlich klingt, und schon um deswillen würde man M P stark
misstrauen müssen. Zum Ueberfluss aber rechtfertigt das Fol-
gende die Lesart des Agobardinus: Si prophetes (M P propheta)
es, praenuntia aliquid, si apostolus, praedica publice. Denn
nach der Frage ex qua auctoritate? würde man die Fort-
setzung: ex prophetae? ex apostoli? erwarten, während um-
gekehrt das exhibe auctoritatem durch die Imperative: prae-
nuntia aliquid, praedica publice den genau entsprechenden In-
halt bekommt.

        p. 430, 4 - - quasi nun valuerit Christus eius (eius
om. P M) vere hominem indutus deus perseverare. Das eius,
welches P M folgend auch Oehler weglässt, bedeutet nach dem
Vorhergehenden: potentioris dei = dei Marcionis, und ist nicht
nur am Platze, sondern notwendig. Die Auslassung in M P ist
aber schwerlich zufällig; denn dass der deus Marcionis seinen
besonderen Christus hat, ist keine so ganz simple Vorstellung
und konnte einem naiven Leser sehr wohl unverständlich sein.

        p. 432, 7    Nativitatem reformat (sc. Christus) a morte
regeneratione caelesti, carnem ab omni vexatione restituit. A.
Hierfür bieten M P: Nativitate reformata (morte om.) regene-
ratione caelesti carnem ab omni vexatione restituit. - Wie
diese Fassung von M P zu Stande gekommen ist, liegt auf der
Hand. Die Präposition a war mit dem vorhergehenden refor-
mat zum Participium zusammengeschmolzen, und nun war für
morte kein Raum mehr. Ohne Bedenken hat es daher der
Sammler gestrichen und die beiden Sätze von A zu einem ge-
macht.

        p. 430, 20     Es handelt sich um die Frage, worauf die
Worte der Schrift: stulta mundi elegit deus sich beziehen.
Quaere ergo, de quibus dixerit, etsi1 praesumpseris invenisse:2
num erit tam stultum quam credere in deum natura? A. -
Hierfür bieten M P: non erit iam stultum credere in deum
natura. Dass dies ein zurechtgemachter Text ist - den An-
_____________

1. Ich verbinde et und si und ändere die Interpunction.
2. M P hat te invenisse, schwerlich mit Recht, da Tertullian bei gleichem
    Subject bekanntlich oft den Infinitiv für den Acc. c. Infin. setzt.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

23


lass gab offenbar die Corruptel non für num - ist klar, und
ebenso klar ist es, dass diese Lesart die Meinung Tertullians
nicht nur verfehlt, sondern genau ihr Gegenteil ausspricht.
Denn dass die Worte der Schrift sich auf die Thatsache der
Geburt Christi beziehen, das eben will Tertullian ja behaupten.

        p. 441, 14     Als Argument dafür, dass Jesus nicht ge-
boren sei, verwendet der Gegner (Apelles) die Erzählung
Matth. 12, 46 ff., dass Jesus auf die Meldung, seine Mutter und
Brüder ständen draussen und wünschten mit ihm zu reden,
entgegnet habe: Wer ist meine Mutter? wer sind meine Brü-
der? Tertullian verwahrt sich gegen eine solche Interpretation
und bemerkt dann: Solet etiam adimplere Christus, quod alios
docet. Quale ergo erat, si docens non tanti facere matrem aut
patrem (aut patrem om. M P) aut fratres quanti dei verbum,
ipse dei verbum annuntiata maue et fraternitate desereret? -
Auch diese Auslassung ist sicher nicht zufällig; ist doch im
Vorhergehenden nur von der Mutter und den Brüdern die
Rede. Aber sie ist auch ebenso gedankenlos; denn mit den
Worten docens non tanti facere etc. bezieht sich Tertullian
auf den Befehl Jesu Matth. 19, 29, um seinerseits die richtige
Interpretation der Frage Jesu: Quae mihi mater, qui mihi
fratres zu geben : Wenn Jesus selbst vorschrieb, das Wort
Gottes höher zu achten als Vater und Mutter und Brüder, wie
hätte er dann gleich 'Gottes Wort im Stich lassen' sollen, wo
ihm gemeldet wurde: Deine Mutter, deine Brüder sind da?
- Hier haben wir es also mit einer 'Verbesserung' des
Textes zu thun, welche nicht einmal durch eine schon vor-
handene Corruptel veranlasst ist.

            • 2. Zusätze.


        p. 430, 5 Als einzigen Grund, weshalb Marcion die wirk-
liche menschliche Leiblichkeit Christi leugnet, kann Tertullian
sich nur den denken, dass er fürchtet, Christus werde auf-
hören Gott zu sein, wenn er wirklich Mensch werde. Tertullian
hält dem entgegen, dass eben darin der Unterschied zwischen
Gott und Mensch liege, dass Gott eine andere Daseinsform an-
nehmen könne, ohne seine eigene Natur zu verlieren. Auch
die Engel des, alten Bundes, welche den Menschen erschienen
seien, seien Engel geblieben, obwohl sie vollkommen mensch- 


24

VI. Abhandlung: Kroymann.

   


liche Gestalt gehabt hätten. Wenn also, so folgert Tertullian
im Sinne Marcions weiter, die Engel des Demiurgen, des deus
inferior, dies vermocht hätten, wie viel mehr der Christus des
deus potentior des Marcion? Dann fährt er fort:

        Aut numquid et angeli illi phantasma carnis apparuerunt? 
Sed non audebis hoc dicere. Nam si sic apud te angeli crea-
toris sicut et Christus, eius dei (ita A. - M P: eiusdem sub-
stantiae) erit Christus, cuius angeli (M P: angeli bis) tales, qualis
et Christus.

        Um aus der Klemme, in welche Tertullians Deduction
den Marcion gebracht hat, herauszukommen, könnte dieser
sagen: Die Leiblichkeit jener Engel des Demiurgen war eben
auch nur ein Phantasma. Aber das wird Marcion nicht wagen.
Denn wenn auch die Engel des Demiurgen eine caro putativa
annehmen können, so wird auch Christus mit seiner caro puta-
tiva des Demiurgen Christus sein und nicht der Christus des
deus potentior Marcions. Es würde damit also Marcions Grund-
lehre ins Wanken kommen. Diesem durchaus klaren Gedanken
entspricht nur die Lesart des Agobardinus: eius dei erit Chri-
stus, während das eiusdem substantiae von M P in diesem Zu-
sammenhange Unsinn ist. Das Wort substantiae ist interpoliert,
weil eius dei in eiusdem corrumpiert war. Die Verdoppelung
des angeli in M P giebt zwar den richtigen Sinn, ist aber nicht
nur unnötig, sondern auch hässlich.

        p. 443, 21   -  -  ceterum quid est sanguis quam rubens
humor, quid caro quam terra in figura sua (ita A. - P M
conversa in figuras suas). Tertullian will darlegen, dass der
menschliche Leib seinen Ursprung aus dem feuchten Erdenklos
(limus) nicht verleugne: Das Blut deute auf die Feuchtigkeit,
das Fleisch auf die Erde hin, und wenn auch die Erscheinungs-
form (species qualitatis) eine andere sei, so könne man doch
das Blut eine 'rote Feuchtigkeit', das Fleisch 'Erde in seiner
Art' nennen. Die Wendung in figura sua bedeutet dasselbe
wie in suo genere, sua in effigie (de an. 9). Also giebt die
Lesart des Agobardinus den adäquaten Ausdruck für den Ge-
danken. Was dagegen eine terra conversa in figuras suas sein
soll, ist mir unersichtlich. Dass wir es mit einer dreisten,
vielleicht durch die Corruptel figuras suas veranlassten Inter-
polation zu thun haben, bedarf keiner weiteren Erörterung.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

25


        p. 440, 9    Poterat enim evenire, ut quos illi nuntiabant foris
stare (stare om. A), ille eos sciret absentes esse. - Ich glaube
nicht, dass das in M P erscheinende stare ursprünglich ist, denn
das folgende esse hinter absentes kann zu foris ergänzt werden.

        In einigen Fällen macht sich in M P ein Bestreben be-
merkbar, durch verstärkende Zusätze einem Ausdruck mehr
Nachdruck zu geben:

        p. 433, 20   Crucifixus est dei filius; non pudet, quia pu-
dendum est. Et mortuus est dei filius, prorsus (prorsus om. A)
credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum
est, quia impossibile est. - Durch das in M P hinzugefügte
prorsus, welches die Herausgeber in den Text aufgenommen
haben, wird nach meinem Empfinden die Schönheit und Kraft
dieser Worte, welche eine deutliche Steigerung enthalten (non
pudet - credibile - certum), in unerfreulicher Weise beein-
trächtigt.

        p. 443, 14   Praetendimus adhuc nihil, quod ex alio accep-
tum sit, ut aliud sit quam id, de quo sit acceptum, ita in totem
(in totem om. A) aliud esse, ut non suggerat, ende sit accep-
tum. Der Zusätz in totem ist nicht nur überflüssig, sondern
streng genommen unlogisch. - Völlig sprachwidrig aber ist
der folgende verstärkende Zusatz:

        p. 437, 15    Mutuum debitum est inter se (inter se om. A)
nativitati cum mortalitate, was ich nicht zu begründen brauche.

            • 3. Varianten.


        Der Uebersichtlichkeit wegen ordne ich sie in drei Gruppen:
1. solche, welche sich als willkürliche Aenderungen erweisen,
2. solche, die möglicherweise das Ursprüngliche geben, 3. solche,
die mit Sicherheit in den Text aufzunehmen sind. 

        1. Im allgemeinen ist zunächst zu bemerken, dass sich
in M P eine Neigung kundgiebt, ungewöhnliche Formen und
Constructionen durch die gewöhnlichen zu ersetzen. Hierhin
gehört die Ersetzung des Tertullian so geläufigen Futurums
anstatt des Potentialis durch das Präsens, so p. 433, 20 und
p. 434, 12 est statt erit, p. 439, 9 licet statt licebit, und die
Ersetzung des ungewöhnlichen singularischen Prädicates bei
mehreren Subjecten durch das pluralische, so p. 425, 10 retrac-
tantur für retractatur, p. 437, 27 annuntiarentur für annuntia-


26

VI. Abhandlung: Kroymann.

   


retur, wo ich beide Male den Singular für wohl statthaft halte.
Ebendahin gehört auch die Aenderung des Indicativs in den
Conjunctiv nach cum causale p.442, 13 cum interpretentur,
wo der Indicativ gut tertullianeisch ist und umgekehrt des Con-
junctiv in den Indicativ nach quod p. 435, 13 aspicite, inquit,
quod ego sum statt sim.1  Ebenso zu beurteilen sind endlich
die folgenden Aenderungen : p. 439, 7 Primo quidem nunquam
quisquam adnuntiasset illi (sc. Christo) matrem et fratrem eius
foris stare für stantes (A). p. 438, 17 Sed etsi de materia ne-
cesse fuisset (A fuit) angelos sumpsisse carnem, vielleicht auch
p. 439, 15 alias non tacens, cum quid temptationis gratia fac-
tum est circa (A erga) eum.

        Indes sind die Aenderungen dieser Art verhältnismässig
harmlos gegen solche, die sich auf ganze Satzteile erstrecken
und zuweilen den Gedanken des Schriftstellers völlig verdun-
keln. Ich lasse die bezeichnendsten Beispiele hier folgen.

        p. 426, 7   Sed et qui carnem Christi putativam inducit,
aeque potuit nativitatem quoque phantasma confingere. Für
diese allein verständliche Ueberlieferung bieten M P : nativitatis
_____________

1. Conjunctiv nach quod z. B. ad martyras 4, apolog. 7. - Uebrigens mag
hier schon die hieronymianische Uebersetzung - ich bin mir bewusst,
einen nicht richtigen Ausdruck zu gebrauchen - eingewirkt haben,
welche den Indicativ hat. Möglicherweise ist von dorther auch das quia
in den Worten quia Spiritus ossa non habet und wohl sicher p. 433, 6
das sapientes statt sapientia (ut confundat sapientia A) eingedrungen.
Ich berühre damit eine sehr wichtige Frage, denn es gilt ja, die Itala
des Tertullian wieder zu gewinnen. Ich habe dieser Frage natürlich
eingehende Beachtung geschenkt, bedaure aber sagen zu müssen, dass
es mir unmöglich scheint, hier zu einem genügend gegründeten Urteil
zu gelangen. Man kann die Ueberlieferung des 11. Jahrhunderts an der
des Agobardinus nur an diesem Stück de carne Christi und an der
Schrift de praescriptione haereticorum prüfen, wo der Paterniacensis
vorliegt. Beide aber enthalten nur sehr wenige wörtliche Citate, und
zudem ist es mir nicht einmal sicher, ob der Agobardinus selbst von
Correcturen der Citate ganz frei ist. So weit ich sehe aber ist diese
Correctur in M P schon weiter vorgeschritten und vollends in der Ueber-
lieferung des 15. Jahrhunderts, namentlich in H F. So wird denn diese
ohnehin schon sehr complicierte Frage durch die Beschaffenheit unserer
Ueberlieferung noch viel verwickelter, und Corssen (Bericht über die
lateinischen Bibelübersetzungen, p. 13) wird mit seiner Befürchtung, dass
hinsichtlich dieses Punktes auch von der neuen Ausgabe nicht viel zu
hoffen sei, leider Recht behalten.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

27



quoque phantasmata confingere. Offenbar ist die Aenderung
hervorgerufen durch den nicht verstandenen doppelten Accu-
sativ bei confingere. Was sich aber der, welcher diese Aende-
rung vornahm, unter dem Plural phantasmata gedacht haben
mag, ist nicht abzusehen,

        p. 427, 1   Marcion scheidet die ganze Geburts- und erste
Kindheitsgeschichte Jesu aus seinem Evangelium aus. Ironisie-
rend lässt Tertullian ihn diese Athetese begründen: Sed nec
circumcidatur infans, ne doleat, nec ad templum deferatur, ne
parentes suos oneret sumptu oblationis, nec in manus tradatur
Simeoni, ne senex moriturus exinde contristetur (ita A. - M P:
ne senem moriturum exinde contristet). Der Sache nach sind
die beiden Lesarten scheinbar nicht wesentlich verschieden,
und doch ist die Ironie bei der Fassung von A ungleich schnei-
dender; denn in Wahrheit hat ja der Alte, als er das Kind
sah, sich nicht betrübt, sondern gejubelt, und dieser Gegensatz
kommt nur bei der Lesart von A zum Ausdruck. Gemacht ist
aber diese Aenderung, um dieses Glied den vorhergehenden
in der Form mehr anzugleichen.

        p. 432, 3 Marcion perhorresciert die Geburt und die
fleischliche Leiblichkeit Christi als eines Gottes unwürdig. Ter-
tullian hält dem entgegen, dass doch eben dieser Christus den
Menschen, den geborenen und fleischlichen, erlöst, also doch ge-
liebt habe, und fährt dann fort: Amavit ergo cum homine etiam
nativitatem, etiam carnem eius. Nihil amari potest sine eo, per
quod est id (A et) quod est. Aut aufer nativitatem et exhibe homi-
nem, aut (aut om. M P) adime (A adhibe) carnem et praesta quem
redemit. Mit Unrecht haben alle Herausgeber die Lesart des
Agobardinus et für id der jüngeren Ueberlieferung aufgegeben,
was sich ja freilich glatter liest. Denn im Vorhergehenden ist
nicht von nativitas, sondern auch von caro die Rede; ersteres
ist durch die Worte per quod est, letzteres durch quod est ausge-
drückt. Bei der Lesart id aber wäre von der caro überhaupt nicht
mehr die Rede. Umgekehrt hat sich im Folgenden fälschlich
das zweite aut in den Agobardinus eingeschlichen. Denn das
erste Glied bedeutet: oder (wenn du das leugnest) scheide die
Geburt aus und schaffe einen Menschen. Mit diesem aut wird
also der Gegner vor Consequenzen seiner Ansicht gestellt, die
er nicht ziehen kann. Die beiden Satzteile sind also einander 


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VI. Abhandlung: Kroymann.

   


gleichwertig und schliessen sich nicht aus, was durch ein
zweites auf geschähe. Auch das adime für adhibe haben M P
richtig erhalten.

        p. 432, 18    Quaenam haec stulta sunt? Conversio hominum
ad culturam (ita A. - M P: hominis ad cultum) veri dei, re-
iectio erroris, disciplina iustitiae, misericordiae; innocentiae
omnis? Haec (M P innocentiae? Omnia haec) quidem stulta
non sunt. - Das Wort cultura findet sich bei Tertullian ziem-
lich selten für cultus, wie es denn in der Bedeutung 'Gottes-
verehrung' erst von den Kirchenschriftstellern gebraucht zu
sein scheint. Es ist hier also ein weniger gebräuchliches Wort
durch das üblichere ersetzt. In der letzten Stelle ist das nicht
so leicht verständliche omnis in omnia verändert und dann mit
dem folgenden haec verbunden. Die Lesart scheint auf den
ersten Blick annehmbar. Indes ist doch klar, dass Tertullian,
um nicht weitere Christentugenden einzeln aufzählen zu müssen,
mit einem umfassenden Ausdruck abschliessen will. Ein ähn-
licher Ausdruck steht de pud. 20: sanctitas omnis.

        p. 433, 5    Sunt plane et alia tam stulta duae pertinent
ad contumelias et (et om. A) passiones dei. Aut prudentiam
dicant (M P  dicam) deum crucifixum. - Vor passiones fehlt in
A das et; es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass passiones
nur ein in den Text gedrungenes Glossem für contumelias ist,
was M P dann ebenso durch et verbunden hätten wie oben
das testimonium redderent mit responderent. Jedenfalls ist
die Lesart dicam, welche M P bieten und wohl als Frage ver-
standen wissen wollen, falsch. Denn das aut hat hier dieselbe
zurückweisende Kraft wie oben in den Worten: aut aufer
nativitatem.

        p. 434, 4    Wenn Geburt und fleischliche Leiblichkeit
eines Gottes unwürdig sind - so folgert Tertullian im Sinne
Marcions weiter - wie viel mehr Kreuzigung, Tod, Begräbnis?
Aber stulta mundi elegit deus, und wer daran glaubt, ist bene
imprudens und feliciter stultus. Crucifixus (M P natus) est dei
filius; non pudet, quia pudendum est. Et Mortuus est dei filius,
credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum
est, quia impossibile est. Die Lesart natus für crucifixus kann
unmöglich eine zufällige Corruptel sein. . Wie sie aber für das
richtige crucifixus eintreten konnte, ist nicht leicht zu sagen.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

29


Vielleicht wirkte noch die Frage p. 433, 8 nach: Quid magis
erubescendum nasci an mori. Wenn darum geändert wurde,
so wäre das freilich der Gipfel der Gedankenlosigkeit. Wahr-
scheinlicher scheint es mir noch, dass in der Vorlage M P das
Particip crucifixus ausgefallen war und nun die Lücke aufs
Geratewohl ausgefüllt wurde.

        p. 433, 22    Christus ist ebenso wahrer Mensch wie wahrer
Gott. Quae proprietas conditionum, divinae et humanae, aequa
utique naturae cuiusque (cuiusque om. M P) veritate dispuncta
est eadem fide et spiritus et carnis (caro M P). Virtutes spiritus
dei deum (spiritum dei M P), passiones carnem hominis pro-
baverunt. Die Lesart caro und die Auslassung von cuiusque
erweisen sich als absichtliche Aenderungen. Derjenige, der sie
vornahm, verstand natura in seiner gewöhnlichen allgemeinen
Bedeutung und nicht in der hier vorliegenden besonderen von
conditio (sc. humana et divina), konnte also mit dem cuiusque
nichts anfangen. Damit wurde aber die zweite Aenderung caro
notwendig; der Satz eadem fide et spiritus et caro wurde als
selbständiges, dem vorhergehenden paralleles Satzglied gedacht,
also die Copula ergänzt. Doch die Correctur erstreckt sich
noch weiter, geht aber diesmal, wie ich glaube, von einem
wirklichen Fehler der Ueberlieferung aus. Die Sätze: virtutes
Spiritus dei deum - und passiones carnem hominis probave-
runt sind ungleich gebildet. Zweifellos soll bewiesen werden,
dass Christus vere deus und vere homo war. Dem entspricht
durchaus das erste Glied. Dem Accusativ deum muss aber
notwendig im zweiten Gliede ein Accusativ hominem ent-
sprechen; anstatt dessen haben wir carnem hominis, und an-
dererseits entbehren wir zu passiones einen Genetiv, welcher
dem Genetiv Spiritus dei nach virtutes entspräche. Die Cor-
ruptel liegt also im zweiten Gliede, und es ist ohne allen Zweifel
herzustellen passiones carnis hominis <hominem> probaverunt.
Derjenige, der in M P den Text änderte, empfand sehr richtig
die unerträgliche Inconcinnität der Sätze; indem er aber das
zweite Glied für intact hielt, machte er durch seine Correctur
den Schaden schlimmer als zuvor.

        p. 442, 14     Die Anhänger des Apelles lassen die Welt
durch einen angelus inclitus schaffen, diesen aber dann über
sein Werk Reue empfinden: Teste igitur paenitentia institutoris 


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VI. Abhandlung: Kroymann.

   


sui peccatum (M P delictum) erit mundus, si quidem omnis
paenitentia confessio est delicti, quia locum non habet nisi in
delicto. Die Aenderung delictum für peccatum hat ihren Grund
offenbar darin, dass weiterhin in dem Satze zweimal delictum
steht. Mit der gleichen Willkür ist kurz vorher nam est nobis
et ad illos libellus in adversus illos geändert, vermutlich weil
in den Titeln der polemischen Schriften überall adversus steht.

        p. 442, 19    Caro igitur Christi de caelestibus structa de
peccati constat (constitit) clementis, peccatrix de peccatorio
censu, et par (A pars) iam erit eius substantiae id est nostrae,
quam ut peccatricem Christo dedignantur inducere (ita A. -
Christus dedignatur induere M P). Mit Unrecht hat Oehler
die Lesart des Agobardinus pars, welche völlig sinnlos ist, in
den Text aufgenommen, richtig jedoch am Schluss der Lesart
des Agobardinus den Vorzug gegeben. Denn Christus selbst
hat es mit nichten verabscheut, in die menschliche Leiblichkeit
einzugehen. Die Variante von M P dürfte vielleicht aus der
Corruptel induere für inducere herzuleiten sein. - Im Ueb-
rigen halte ich die Worte id est nostrae, welche die Verbin-
dung zwischen dem Relativsatz und seinem Beziehungswort in
unerträglicher Weise unterbrechen, und welches zudem sehr
aufdringlich ist, für ein Glossem. - Gleich sinnlos wie die
obige Variante ist eine andere

        p. 443, 19,    wo wir für utriusque originem elementi (A)
utrumque originis elementum lesen.

        2. Ich komme nun zu den Varianten, die einen Zweifel
darüber zulassen, ob wir es mit einer willkürlichen Aenderung
oder mit guter Ueberlieferung zu thun haben.

        p. 429, 1    Wenn Christus nicht geboren war, so durfte
er auch nicht den Anschein erwecken, als sei er geboren. Quid
tanti fuit, edoce, quoll sciens Christus quid esset, id se (M P:
esse; wohl einfache Corruptel) quod non erat exhiberet ? Non
potes dicere: ne, si natus fuisset et hominem vere induisset,
deus esse desisset, amittens quod erat, dum fit (MP assumit)
quod non erat. - Es liegt am nächsten, diese Abweichung auf
eine Glosse zurückzuführen; dann aber könnte diese nur fit
sein, und wir hätten in M P das Richtige erhalten. Es lässt
sich dem aber entgegenhalten, dass assumere doch eigentlich
etwas anderes ist als fieri, und dass es streng genommen in


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

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diesen Zusammenhang nicht passt. Denn aufhören, etwas zu
sein, muss man nur dann notwendig, wenn man etwas total
anderes wird, nicht aber, wenn man eine neue Daseinsform
zu der bisherigen 'hinzunimmt'. So angesehen, möchte man
das assumit eher als einen Versuch ansehen, eine ursprüng-
liche Lücke zu ergänzen.

        p. 432, 5   Si haec (sc. caro et nativitas) sunt homo, quem
deus redemit, tu haec erubescenda illi facis, quae redemit, et
indigna, quae nisi dilexisset, non redemisset. Nativitatem re-
format a morte regeneratione caelesti, carnem ab omni vexa-
tione restituit, leprosam emaculat, caecam reluminat (M P per-
luminat) paralyticam redintegrat, daemoniacam expiat (A captat),
mortuam resuscitat, et nos illam erubescemus? (ita A. - M P:
et nasci in illam erubescit?)   Dass die Lesart reluminat den
Vorzug vor perluminat verdient, ist klar. Umgekehrt giebt
uns M P mit expiat sicher das Ursprüngliche für das verderbte
captat. Sehr schwierig dagegen ist die Entscheidung bei der
letzten Variante. Denn an sich sind beide Lesarten wohl ver-
ständlich. Indes sprechen doch gewichtige sachliche Gründe
dafür, dass Tertullian so geschrieben hat, wie wir in M P lesen.
Denn der Wechsel des Subjectes in A ist um deswillen be-
sonders auffällig, weil Tertullian fortfährt: Si revera (sc. Chri-
stus) de vacca aut sue prodire voluisset; vgl. auch das vorher-
gehende : tu illi haec erubescenda facis. Zudem musste es auf-
fallen, dass Tertullian nos illam erubescemus sagt, wo wir doch
tu illam erubesces erwarten sollten. Und endlich wäre unter
illam nur das vorhergehende caro zu verstehen, nicht auch
nativitas, was hoch gefordert wird, während umgekehrt durch
das nasci in illam beides zum Ausdruck kommt. Nach alledem
scheint mir doch die Lesart von M P den Vorzug zu ver-
dienen. - Dass auch im Agobardinus nicht blos mechanische
Trübungen der Ueberlieferung vorliegen, bewies schon oben
das fälschlich eingeschobene auf p. 432, 6 und die Aenderung
carnem hominis p. 433, 27, und wird sich auch noch weiter-
hin bestätigen. Hier wäre natürlich der Anlass zu dieser ein-
schneidenden Aenderung in der primären Corruptel nos für
nasci zu suchen.

        p. 436, 19    Christus kann ohne Geburt Mensch geworden
sein, sagt Apelles, weil ja auch die Engel es so geworden sind:


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VI. Abhandlung: Kroymann.

   


Agnoscimus quidem ita relatum, sed tamen quale est, ut alterius
regulae fides ab ea fide, quam impugnat, instrumentum argu-
mentationibus suis (ita M P. - A argumentorum) mutuetur? -
Die Lesart der jüngeren Ueberlieferung ist so bestechend, dass
sie von allen Herausgebern in den Text aufgenommen ist. Den
noch lässt sich, meines Erachtens, die Lesart von A mit guten
Gründen als das Ursprüngliche verteidigen. Lassen wir den
Dativ argumentationibus suis gelten, so wäre es das Nächst-
liegende, instrumentum allgemein als 'das Rüstzeug' zu ver-
stehen. Dann aber müssten wir unbedingt den Plural instru-
menta erwarten. Es kann aber bei Tertullian instrumentum
bekanntlich auch 'die Schrift' bedeuten, und das scheint hier
zu passen. Aber es scheint auch nur so, denn in Wirklich-
keit 'entleiht' ja Apelles von dem Gegner nicht 'die Schrift',
sondern aus ihr nur die Gründe für seine häretischen Ideen.
Also er entleiht dem Glauben, den er bekämpft, den Apparat
seiner Gründe, d. h. aber auf tertullianeisch: instrumentum
argumentorum, genau so wie er apolog. 17 von einem instru-
mentum elementorum redet: Quod colimus deus unus est, qui
totam molem istam cum omni instrumento elementorum de
nihilo expressit. - Hiernach möchte ich also doch A folgen
und die Lesart von M P für eine willkürliche Aenderung halten,
die darin ihren Grund haben wird, dass der Aendernde instru-
mentum als 'Handwerkszeug' verstand und dann einen Dativ
postulieren musste.

        3. Endlich liegt noch ein einziger Fall vor, wo mir nicht
in M P, sondern in A der Text willkürlich geformt zu sein
scheint.

        p. 433, 21   Tertullian hat den Gegner vor die Frage ge-
stellt, ob er auch die Kreuzigung, den Tod und die Auferste-
hung Christi für ein phantasma halte. Wenn dem so ist, sagt
er weiter, so ist unser Glaube ein Blendwerk und unsere ganze
Hoffnung ein Wahn. Scelestissime hominum, qui interemptores
excusas dei (nihil enim ab eis passus est Christus, si nihil vere
est passus),1 quid2 destruis necessarium dedecus fidei? Quod-
cumque deo indignum est, mini expedit. Salvus sim (so richtig
_____________

1. Diese veränderte Interpunction halte ich für notwendig.
2. So schreibe ich mit A. - M P qui, welches die Herausgeber aufge-
    nommen haben.


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

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A) si non confundar de domino meo: qui mei, inquit; confusus
fuerit, confundar et ego eius. Alias non invenio materias con-
fusionis, quae me per contemptum ruboris probent bene im-
prudentem et feliciter stultum. Crucifixus est dei filius; non
pudet, quia pudendum est. Et mortuus est dei filius; credibile
est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum est, quia
impossibile est.  Nam (ita A. - M P Sed haec) quomodo vera
in illo erunt, si ipse non fuit verus, si non vere habuit in se,
quod figeretur, quod moreretur, quod sepeliretur et resuscita-
retur, carnem scilicet hanc sanguine suffusam, ossibus structam
(MP substructam), nervis intextam, venis implexam, quae nasci
et mori novit, humanam (A: humana) sine dubio, ut natam (A:
nata) de homine. Ideoque mortalis haec erit in Christo, quia
Christus homo et hominis filius. - Ich habe mich vergeblich
bemüht, die Lesart von A : nam quomodo vera in illa erunt
in irgend einer Weise mit dem Vorhergehenden in einen logi-
schen Zusammenhang zu bringen, und begreife nicht, wie ge-
rade hier Oehler dem Agobardinus folgen konnte. Denn dass
dieser Satz die Begründung für das Vorhergehende enthalten
könnte, ist ausgeschlossen. Oder wer versteht denn solchen
Zusammenhang: - 'und gestorben ist der Sohn Gottes; es ist
glaublich, weil es abgeschmackt ist. Und ist aus dem Grabe
auferstanden; es ist sicher, weil es unglaublich ist. Denn wie
wird in ihm Wirkliches sein, wenn er selbst nicht wirklich
war?' Dagegen ist der Zusammenhang durchaus verständlich,
wenn wir mit M P lesen: Sed haec quomodo in illa vera erunt?
Denn Tertullian will sagen: Dass Christus gekreuzigt, gestorben
und begraben ist, ist unglaublich und unmöglich; aber gerade
deshalb glaube ich daran. Denn Gottes Heilsplan ist eben
Thorheit. 'Wie aber,' sagt er dann weiter, 'kann dieses
(nämlich Kreuzigung, Tod, Begräbnis) in ihm wirklich sein,
wenn er selbst nicht wirklich war?' - Also: die Thorheit des
göttlichen Heilsplanes kann mich in meinem Glauben nicht
wankend machen, wohl aber das, was der Gegner ersonnen
hat, um der Thorheit Gottes zu helfen, das bekannte phan-
tasma. Denn wenn Christus selbst und sein Leben und Leiden
nicht wirklich war, so ist auch mein Glaube ein Wahn. So ist
also die Stelle nur zu verstehen, wenn wir mit M P: Sed haec
lesen, womit wir auch zu dem vera ein deutliches Subject be-


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VI. Abhandlung: Kroymann.

   


kommen. Wie aber kommt dann in A das nam hinein? Da,
es durch einfache Corruptel nicht entstanden sein kann, so
bleibt nichts übrig, als es als den missglückten Versuch der
Ergänzung einer ursprünglichen Lücke anzusehen. - Im Fol-
genden halte ich auch die Lesart substructam von M P für
richtig, dagegen ist der letzte Teil in M P zurechtgemacht,
unter der Voraussetzung, dass das Ganze ein Satz sei. Es
ist aber zweifellos nach implexam ein Fragezeichen zu setzen
und dann mit A zu lesen: Quae nasci et mori novit, humana
sine dubio, ut nata de homine, ideoque mortalis haec erit in
Christo, quia Christus homo et hominis filius.


        Im Vorstehenden glaube ich das für unsere Frage in Be-
tracht kommende Material im Wesentlichen vollstündig zu-
sammengetragen zu haben.. Stellen wir nun die Frage, ob uns
in der Ueberlieferung von Cluny mehr vorliege als eine blosse
Sammlung tertullianeischer Schriften, so muss dieselbe nach
meiner Meinung bejaht werden. Die Abweichungen, Aus-
lassungen und Zusätze sind so zahlreich und eigentümlich,
dass man sie unmöglich als eine im Laufe der Zeit allmäh-
lich erwachsene Summe von Corruptelen ansehen kann. Der
Sammler des Corpus hat vielmehr die ihm überlieferten Texte
der einzelnen Schriften (denn man wird unbedenklich das Ur-
teil verallgemeinern dürfen) einer corrigierenden Durchsicht
unterworfen und hat zum Masstab seiner Kritik sein eigenes,
freilich durchaus unzulängliches Verständnis des Schriftstellers
gemacht, welches ihn verführt hat, in ganz willkürlicher Weise
zu athetieren, interpolieren und conjicieren. Nach der vor-
liegenden Probe zu urteilen, dürfte er dabei kaum mehr als
jedesmal eine Handschrift zu Rate gezogen haben, und zum
Teile jedenfalls ist die ihm zu Gebote stehende Ueberliefe-
rung desselben Stammes gewesen wie die des Agobardinus,
der seinerseits vielleicht den ersten Versuch darstellt, dem den
Schriften des Afrikaners drohenden Untergange, über welchen
schon Hieronymus klagt, durch eine Sammlung vorzubeugen.
Wenn das uns erhaltene Corpus Tertullianeum wirklich den
Gesammtbestand der von dem Sammler vereinigten Schriften
darstellt - und diese Frage können wir weder bejahen noch


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

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verneinen - so hat er sicher die im Agobardinus vorliegende
Sammlung nicht gekannt. Denn von den in ihm erhaltenen
Schriften weist das Corpus nur den geringeren Teil auf, und
es wäre nicht abzusehen, warum er die anderen von seiner
Sammlung hätte ausschliessen sollen. Ein weiterer Beweis da-
für, dass die in dem Corpus vereinigten Schriften bis dahin
ein Einzelleben geführt haben, ist der auffallend verschiedene
Zustand ihrer Erhaltung. Denn wenn man z. B. die Schrift
de exhortatione castitatis, die uns ja freilich nur in Hand-
schriften des 15. Jahrhunderts erhalten ist, am Agobardinus
misst, so ist der Abstand so erschreckend - ich zähle in M F
in dieser kleinen Schrift nicht weniger als 92 grössere und
kleinere Lücken - dass man sieht, diese Schrift hat dem
Sammler des Corpus in einem schon viel traurigeren Zustande
vorgelegen als beispielsweise unsere Schrift de carne Christi.
Und in demselben Grade nehmen denn hier auch die Inter-
polationen und Aenderungen an Willkür zu. Dass aber hieran
nicht etwa die um drei Jahrhunderte verlängerte Weitergabe
des Textes schuld ist, lehrt die Vergleichung anderer Schriften
derselben Ueberlieferung mit dem Agobardinus, z. B, der Schrift
de monogamia. Um also zusammenzufassen, was sich auf Grund
der bisherigen Beobachtungen schliessen lässt, ist der wahr-
scheinliche Thatbestand folgender: Nachdem bereits einmal der
Versuch gemacht wurde, die Schriften Tertullians durch eine
Sammlung vor dem Untergange zu retten, hat, vermutlich in
Gallien, ein anderer Mann, unbekannt mit jenem ersten Ver-
such, die für ihn erreichbaren, bis dahin vereinzelt überlieferten
Schriften zu einem Corpus vereinigt, sie nach sachlichen Ge-
sichtspunkten geordnet und den Text einer durchgehenden Re-
vision unterzogen. Das Verdienst, dieses Corpus der Nachwelt
erhalten zu haben, dürfte den Cluniacensern zuzuschreiben
sein. So bedeutungsvoll aber auch die That des Sammlers ist,
so unumwunden muss zugestanden werden, dass der Zustand
des uns überlieferten Textes nicht nur durch die Ungunst
der Ueberlieferung, sondern auch durch die Willkür des Her-
ausgebers beklagenswert ist, wenn auch in den verschiedenen
Schriften in verschiedenem Grade. - Der Kritik werden sich
die Verderbnisse des ursprünglichen Wortlautes da, wo der
Agobardinus nicht zur Controle herangezogen werden kann, in


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VI. Abhandlung: Kroymann.

   


den meisten Fällen entziehen, und auch da, wo sich eine Cor-
ruptel fühlbar macht, wird die Heilung um so schwerer gelingen,
je tiefer die welle des Verderbnisses verschüttet ist. So wird
sich denn der Kritiker diesem Texte gegenüber in der uner-
quicklichen Lage befinden, dass er zwar weiss, dass hier eine
'conservative Kritik' übel am Platze ist, und dass er dennoch
doppelt vorsichtig sein muss, um nicht den Boden ganz unter
den Füssen zu verlieren. Am leichtesten werden sich immerhin
noch die durch Interpolation und Glossen entstandenen Text-
verderbnisse beseitigen lassen, und ausserdem wird man bei
der Menge der Lücken, durch welche diese Ueberlieferung
entstellt ist, auf ihre Aufweisung bedacht sein müssen, auch
wenn man nicht die Mittel hat, den verlorenen Wortlaut sicher
herzustellen.

        Was den Agobardinus betrifft, so bleibt er zwar in allen
Schriften; die er überliefert, die Grundlage der Kritik. Dass
aber neben ihm die andere Ueberlieferung nicht nur zur Er-
gänzung seiner zahlreichen Lücken in Betracht kommt, glaube
ich an mehreren Beispielen gezeigt zu haben. Jedenfalls wird
jede Variante aufs gewissenhafteste zu prüfen sein, da auch
diese Ueberlieferung von willkürlichen Aenderungen und Zu-
sätzen nicht ganz frei ist. In diesem Punkte kann die Methode
Oehlers, der zwischen beiden Ueberlieferungen hilflos hin und
her schwankt, nur als Beispiel dienen, wie man es nicht
machen soll.

        Noch schwieriger und undankbarer wird die Aufgabe des
Kritikers da, wo nur des Rhenanus erste Ausgabe (Hirsau-
giensis und dazu die Florentiner Handschrift F) und die an-
dere Florentiner Handschrift N, das Apographon von M und
endlich die spärlichen Reste des Gorziensis bei Rhenanus die
kritische Grundlage bilden. Denn es ist selbstverständlich, dass
die drei Jahrhunderte längerer Ueberlieferung nicht ganz spur-
los an dem Texte vorübergegangen sind. Mit der Heranziehung
der Handschrift N, welche ich zum ersten Mal ganz verglichen
habe, ist hier übrigens gegen früher ein nicht zu unterschätzen-
der Fortschritt gemacht worden. Man braucht nur die von
mir p. 4-6 gegebene Zusammenstellung ihrer Lesarten mit
denen von H F zu vergleichen, um zu sehen, dass N ein ent-
schieden glaubwürdigerer Zeuge der Ueberlieferung ist als H (F),


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

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wenn auch, namentlich wegen der Lücken, keine Handschrift
der andern entraten kann. Dass in H die Verderbnis weiter
fortgeschritten ist, kommt, wie ich schon oben bemerkte, wahr-
scheinlich daher, dass zwischen ihr und dem M H gemeinsamen
Archetypus noch ein Mittelglied zu statuieren ist, vielleicht der
von Rigault wiederholt notierte Divionensis.1 Es ist eine be-
zeichnende Eigentümlichkeit des Hirsaugiensis, dass in ihm un-
gewöhnliche Formen durch die gewöhnlichen ersetzt sind, wie
oben: praecinuerat für präececinerat, araneae für aranei, und
es ist sehr wohl möglich, dass Rhenanus der Correctur von
H, die er ausdrücklich bezeugt, allzuviel Vertrauen geschenkt
hat. Diese Correctur erstreckt sich, wie ich anderweitig be-
merkt habe, namentlich auch auf die Bibelcitate, und sie hat
sich auch vor dreisten Interpolationen nicht gescheut.2 Nach
alledem ist es klar, dass unter den kritischen Subsidien des
IV. Bandes die Handschrift N den ersten Platz beanspruchen
darf. Es darf indessen nicht verschwiegen werden, dass auch
diese Handschrift, wie sie die zweite, nicht auf urkundlicher
Basis ruhende Correctur von M anstandslos in den Text auf-
genommen hat (vgl., oben p. 12), ausserdem auch manches
_____________

1. Mit Recht betont Oehler praef XIX und XX, dass derselbe viel mehr
enthielt, als Rigault in seiner Vorrede sagt. Es kann kein Zweifel sein,
dass er, wie Gorziensis, Hirsaugiensis und N, das vollständige Corpus
enthielt. Soweit ich bei Oehler gesehen habe, stimmen seine Lesarten
auffallend mit dem Hirsaugiensis überein. Doch bedarf diese Frage
noch weiterer Untersuchung.

2. So Capitel 7, Ende. Hier lesen wir in A M P N : Ceterum ad negandam
nativitatem alius fuisset ei locus et tempus; in F dagegen: alius ne-
cessarius fuisset, und dieses interpolierte necessarius hatte auch der
Hirsaugiensis, wie Rhenanus' Randbemerkung beweist. Auch Glossen
sind hier schon häufiger als in M P N in den Text gedrungen, so p. 437,
9: comparent velim et causas, ob quas in carnem venerunt processerunt,
was ebenfalls Rhenanus für den Hiersaugiensis notiert, und noch
schlimmer adv. Marcionem 25 (p. 77, 30), wo der ganze Satz: quis volet
quod non concupiscet ohne Zweifel ein Glossem zu den vorhergehenden
Worten ist, welche genau dasselbe in prägnanterer Form ausdrücken.
In F sind der Interpolationen übrigens noch mehr als in H, z. B.
p. 431, 16: amavit utique quem magno pretio redemit, wo das Wort
pretio nicht nur in M P N, sondern auch bei Rhenanus fehlt; ebenso
p. 433, 18, wo F Et falso enim gegen das einfache Falso der gesamten
anderen Ueberlieferung bietet.


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VI. Abhandlung: Kroymann.

   

aufweist, was wohl auf Correctur des Schreibers selbst zurück-
zuführen sein dürfte.

        So p. 427, 3,  wo Marcion angeredet wird: Nam et mor-
tuus es, qui non es Christianus, non credendo quod traditum
(om. N. - creditum H F) Christianos facit. Dass das tradi-
tum so keinen Sinn ergiebt, erkannte sowohl der Schreiber
von N, wie der des Hirsaugiensis. Der letztere ändert in cre-
ditum, der erstere aber lässt es einfach weg. Beides hilft nicht,
die wirkliche Heilung wird durch Umstellung erreicht: non
credendo traditum, quod Christianos facit. Vergleiche die kurz
vorhergehenden Worte: Si tantum Christianus es, crede quod
traditum est. Die Neigung, wegzulassen, um den Anstoss zu
beseitigen, lässt sich auch sonst aufzeigen, z. B. p. 433, 15:
Sed iam hic responde, interfector veritatis, norme vere cruci-
fixus est deus? nonne vere mortuus est, ut (P M F : et) vere
crucifixus? nonne vere resuscitatus, ut vere scilicet mortuus?
- Bei der überlieferten Lesart et waren die Worte et vere
crucifixus nicht nur überflüssig, sondern unerträglich, und des-
halb hat sie der Schreiber von N, anstatt in ut zu ändern,
ganz weggelassen. Auch einzelne Worte, welche unbeschadet
der Deutlichkeit des Sinnes wegfallen können, fehlen öfters,
wohl nicht zufällig, in N, so p. 432, 17: Stulta mundi elegit
deus. Quaenam haec stulta (stulta om. N)? Die sofortige
Wiederholung des Wortes stulta scheint dem Schreiber miss-
fallen zu haben. - p. 440, 9: - - ut quos illi nuntiabant
foris, ille eos sciret absentes esse (esse om. N). In der That
scheint der Ausdruck durch Weglassung des esse an Straff-
heit zu gewinnen. Auch eine Ergänzung des lückenhaft über-
liefertes Textes, und zwar eine richtige, lässt sich in N nach-
weisen.  p. 441, 9: Cum indignatio parentes negat (ita A N,
negat om. M P H F), non negat, sed obiurgat. - Die Ueber-
lieferung des Agobardinus beweist, dass der Schreiber von N
mit seinem eingeschobenen negat das Richtige getroffen hat.
Aber das ändert ja leider nichts an der Thatsache, dass N
seine Vorlage eben nicht ganz unbefangen weitergiebt, sondern
ihr, wo es ihm nötig erscheint, durch eigene Combination zu
Hilfe kommen zu müssen glaubt.

        Die Kritik wird hierauf, wenn auch N als Grundlage für
die recensio bestellen bleibt, immer ein wachsames Auge haben


Kritische Vorarbeiten für den III. und IV. Band der neuen Tertullian-Ausgabe.

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müssen und dieser Handschrift gegenüber nicht allzu ver-
trauensselig sein dürfen. Von dem authentischen Wortlaute
des Tertullian aber werden die Schriften des IV. Bandes, bei
einer so traurigen handschriftlichen Grundlage, auf alle Fälle
am weitesten entfernt bleiben, am allermeisten, wie mir scheint,
in der Schrift de pallio, die nicht zum wenigsten um ihrer
ganz verwahrlosten Ueberlieferung willen so viele und nicht
ohne Bitterkeit behandelten Controversen hervorgerufen hat.



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